Kinder im Netz

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Es liegt in der Natur des elektronischen Briefes, daß sich nur sehr vage Aussagen machen lassen über seinen tatsächlichen Absender. Die Handschrift als ziemlich sicheres Erkennungsmerkmal fällt weg. Eine augenscheinlich von einem Kind unterzeichnete E-Mail kann genauso gut von einem Erwachsenen geschrieben worden sein. Es wäre bei der vorliegenden Analyse allerdings sehr wünschenswert, zu wissen, wer denn da nun wirklich am anderen Ende des Drahtes vor dem Bildschirm sitzt. Dies würde Rückschlüsse darauf zulassen, wie intensiv und eigenständig Kinder das Kommunikationsmittel "elektronische Post" nutzen.

Zunächst einmal könnten sprachliche Indikatoren bei der Entscheidung helfen, ob der Absender ein Kind oder ein Erwachsener ist. Wimmelt der Text vor Rechtschreibfehlern? Oder ist er orthographisch einwandfrei? Ist die Grammatik korrekt, der Satzbau kompliziert oder eher simpel gestrickt? Werden Fremdwörter benutzt?

Es ist jedoch mitunter ausgesprochen schwierig, anhand der "sprachlichen Qualität" eines Briefes zu entscheiden, ob er von einem Kind oder Erwachsenen geschrieben wurde. Sprachliche Indikatoren stellen für die vorliegende Analyse ein sehr unsicheres Entscheidungskriterium dar. Denn bei Kindern in der Lilipuz-Zielgruppe lassen sich erhebliche alters- und entwicklungsbedingte Unterschiede konstatieren, was ihre Schreibfähigkeiten betrifft. (416) Manche Kinder können mit zehn oder elf Jahren gar schon so gut schreiben, daß ihre Briefe nur schwer zu unterscheiden sind von denen Erwachsener, die sich einer einfachen Schriftsprache bedienen.

Dazu ein Beispiel aus der elektronischen Hörerpost von Lilipuz:

"Hallo Lilipuz-Team!
Ich möchte gerne das Lilipuz-Programm, Ballons und vielleicht noch ein Poster.
Ich finde die Hörspielgeschichten am Sonntag immer ganz toll, obwohl ich sie gar nicht zu ende hören kann, weil ich dann fast immer mit meinem Vater ins Schwimmbad fahre und euch im Autoradio höre." (417)

Ein elektronischer Brief wie dieser kann auf vielfältige Art und Weise entstanden sein:

  1. Das Kind hat seiner Mutter oder seinem Vater gesagt, was es der Lilipuz-Redaktion mitteilen will. Die Eltern haben dann den Brief im Namen des Kindes formuliert und abgeschickt (entweder vom häuslichen Computer oder vom Arbeitsplatz aus).

  2. Das Kind hat den Brief auf Papier vorgeschrieben und dann von seinen Eltern abtippen lassen. Dabei haben diese einzelne Passagen umformuliert und Rechtschreibfehler beseitigt.

  3. Das Kind hat den Brief direkt in die E-Mail-Eingabemaske geschrieben und dann von den Eltern korrigieren und versenden lassen.

  4. Das Kind hat den Brief ohne Unterstützung eines Erwachsenen geschrieben und auch eigenständig abgeschickt.

Es ist kaum möglich, über die Entstehungssituation Aussagen zu machen, die mehr sein könnten als vage Spekulationen. Es wäre ohnehin nicht sinnvoll, einen Brief, der zwar auf die Initiative eines Kindes zurückgeht, den aber ein Erwachsener für ein Kind geschrieben oder nur korrigiert hat, einem erwachsenen Autor zuzuordnen. Entscheidend ist: Ein Kind wollte eine Meinung oder ein Anliegen an die Redaktion herantragen, und zwar nicht in Form eines handschriftlich verfaßten Briefes, sondern eben als E-Mail. Auch wenn ihm dabei ein Erwachsener sprachlich oder technisch assistiert hat, ist das Kind letztlich als Urheber des Briefes zu betrachten.

Für die vorliegende Inhaltsanalyse setzte ich deshalb als Definition fest:

Eine E-Mail, die von einem Kind stammt, ist inhaltlich aus der Perspektive eines Kindes geschrieben. Ein Brief, der nach dieser Definition einem Kind zugeordnet wird, kann, muß aber nicht von einem Kind eigenständig verfaßt worden sein. Zum einen kann ein Erwachsener dem Kind beim Schreiben assistiert haben. Zum anderen gelten als Kinder-E-Mails auch solche, die zwar von Erwachsenen geschrieben wurden, allerdings inhaltlich aus einer kindlichen Perspektive heraus. Von dieser letzten Gruppe abzugrenzen sind solche E-Mails, in denen ein Erwachsener das Anliegen eines Kindes weiterleitet, aber aus der Sicht eines Erwachsenen schreibt. Sprachliche Indikatoren werden nur dann als Entscheidungshilfe herangezogen, wenn sich der Brief nach dieser Definition inhaltlich nicht einem Kind zuordnen läßt.


Auf dieser Definition basiert der folgende hierarchisch aufgebaute Kriterienkatalog. Bei der Kodierung wird zunächst anhand der Kriterien 1 und 2 überprüft, ob der Brief einem Kind oder Erwachsenen zugeordnet werden kann. Ist dies nicht möglich, greift Kriterium 3. Läßt sich der Brief dann immer noch nicht einem Erwachsenen bzw. Kind zuschreiben, kommt Kriterium 4 ins Spiel:

Kriterium 1: Der oder die Verfasser des Briefes schreibt/schreiben in der Ich- bzw. Wir-Form und nennt/nennen sein/ihr Alter. Aufgrund dieses Alters ist eine Einordnung in die Gruppe der Erwachsenen oder Kinder möglich.
Kriterium 2: Der Briefschreiber macht Aussagen über sich, über seine Handlungen, Wünsche, Eigenschaften oder seine Beziehung zu anderen Personen, anhand derer er sich der Gruppe der Erwachsenen oder Kinder zuordnen läßt.

Indikatoren für kindliche Autoren sind Formulierungen wie die folgenden (die Beispiele sind alle der elektronischen Hörerpost von Lilipuz entnommen):

"ich bin Alexander L. und schaue mit meinem Vater gerade auf Eurer Seite vorbei"
"Ich wuerde mich auch ueber ein paar Lilipuz-Aufkleber und -Ballons für meine Freunde und mich sehr freuen"
"Bitte schickt auch meiner Freundin Ronja ein Exemplar"
"ich höre immer Ohrenbär und jetzt hat mein Papa euch in seinem Komputer gefunden."
"Ich möchte gerne ein Poster für mein Kinderzimmer haben."

Indikatoren für erwachsene Autoren sind Formulierungen wie:

"bitte senden Sie mir für meine Kinder das Poster von Lilipuz"
"Ich bin Grundschullehrerin"
"wir - eine Kindertagesstaette in Gladbach"
"mein kleiner Sohn Jan wuenscht sich"
"Da ich selbst auch Kinderfunk mache..."
Kriterium 3: Viele E-Mail-Adressen enthalten als Bestandteile Vor- und Nachnamen bzw. Initialen des Absenders. Nennt der Briefschreiber seinen Vornamen oder ist der Brief unterzeichnet mit einem Vornamen, der sich von einem in der Absender-Adresse genannten Namen unterscheidet, dann wird die E-Mail einem kindlichen Autor zugeschrieben. Implizit wird davon ausgegangen, daß die wenigsten Kinder eine persönliche E-Mail-Adresse haben und schon gar nicht einen eigenen Internet-Zugang. Diese Annahme stützt sich u.a. auf meine persönlichen Erfahrungen mit der Mailingliste Kinderpost. (418)
Kriterium 4: Sprachliche Prüfkriterien.

Indikatoren für kindliche Autoren sind:

  • Die E-Mail enthält für Kinder typische Rechtschreibfehler: (419)
    • Charakteristisch insbesondere für Schreibanfänger sind fehlerhafte Zuordnungen einzelner Buchstaben zu den entsprechenden Lauten (Graphem-Phonem-Bindung). Beispiel: "mit freuntlichen Grüßen"
    • Adjektive, die nicht am Satzanfang stehen, werden groß geschrieben.
    • Kleinschreibung am Satzanfang.
  • Kurze Sätze und ein linearer Satzbau, der weitestgehend auf Kommasetzung verzichtet, oder Sätze mit fehlerhafter Kommasetzung.

    Beispiel:
    "Hallo B-Punkt, die lilipuz aufkleber finde ich toll!deshalb möchte ich noch einen haben.dann möchte ich noch eine lilipuz-broschüre und einen luftbalon.und noch was ich finde dich toll!mach weiter so!!!"
    Und ein zweites Beispiel:
    "Bitte schickt mir zwei Poster ( für mich und meinen Bruder christoph)für unsere Kinderzimmer und das Programmheft"
    Im Gegensatz dazu ein für fortgeschrittene (erwachsene) Schreiber typischer Stil:
    "Heute habe ich zum ersten Mal die neue Sendung gehört, und ich glaube, ich muß mich wohl erst ein wenig umgewöhnen, bis mir wieder alles so richtig gefällt. Ich finde es zum Beispiel schade, daß der Tobibumat nach Amerika gegangen ist; aber gegen ein Paradies für Tobibumaten kommt man wohl nicht an, und wenn Gräte ihm dann auch noch falsches Essen gibt..."
    Und auch hierzu ein zweites Beispiel:
    "gleich zu Beginn der Sendung waren wir ziemlich verbluefft, als Ihren jungen Hoerern ganz ernsthaft das verbreitete Missverstaendnis aufgetischt wurde, die Neumondphase entstehe dadurch, dass der Mond in den Schatten der Erde trete."
Indikatoren für erwachsene Autoren sind:

  • Verwendung von Fremdwörtern oder Formulierungen, die für Kindersprache ungewöhnlich sind. Hierzu gehören auch im bürokratischen Briefverkehr übliche Floskeln:
    "hiermit bitte ich..."
    "im Rahmen von"
    "Ich bedanke mich für Ihre Bemühungen und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg mit LILIPUZ!"
    "momentan"
    "Jeden Tag fragt er mich seitdem, ob eine Antwort vorliegt."
  • substantivistischer Stil:

    "Gibt es im Gegensatz zur Postlieferung auch etwas für blinde Kinder?" "... konnten aber bisher kein Geschäft ausmachen, daß uns beim Erwerb behilflich sein konnte."
  • Verwendung von Abkürzungen: etc., usw., mfg (für "Mit freundlichen Grüßen")


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zurück (416) Vgl. Kapitel 1.3.3.1.

 

zurück (417) Bei allen im folgenden zitierten E-Mails werden orthographische Fehler übernommen.

 

zurück (418) Die Kinderpost wurde im Frühjahr 1998 von der Hamburger Pädagogin Birgit Bachmann und mir initiiert. Hierbei handelt es sich um eine sogenannte moderierte Mailingliste. Das heißt, Kinder setzen ihre E-Mail-Adresse auf eine Verteilerliste und können dann einen Brief an alle anderen in die Liste eingeschriebenen Kinder schicken, indem sie ihn an die Kinderpost adressieren. Alle eintreffenden Briefe werden von Birgit Bachmann oder mir gegengelesen und erst dann an alle Teilnehmer weitergeleitet. Dadurch werden einerseits Erwachsene aus der Diskussion herausgehalten. Andererseits soll diese Vorgehensweise Kinder vor Übergriffen durch Erwachsene bewahren. Die E-Mail-Adressen der Kinder erscheinen - anders als bei Mailinglisten sonst üblich - nicht automatisch im Absenderkopf der Kinderbriefe.
Als einer der Moderatoren dieser Liste habe ich zahlreiche Briefe von Kindern an die Mailingliste weitergeleitet. Nach den Adressen zu schließen wurden fast alle über das Internet-Konto der Eltern versandt.

 

zurück (419) Vgl. Kapitel 1.3.3.1.

© Tobias Gehle, 1998

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